Heute erscheint es mir höchste Zeit zu sein sowohl für einen Rückblick als auch für einen frischen Blick nach vorne. Denn ich glaube, dass wir, trotz des sehr umfangreichen Wissens, dokumentiert u.a. durch mehr als 60.000 Veröffentlichungen in Pubmed zum Thema „Chronic Stress/Chronischer Stress“, unsere (Er)Kenntnisse bisher nur unzureichend in stressreduzierende Maßnahmen umgewandelt haben. Die Inzidenz chronischer Erkrankungen steigt (auch in dieser Zeit mit einem politisch komplett anderen Fokus), ebenso wie die von Stress, ja weiter an.
Rückblick
2008 kam das iPhone 3 auf den Markt und hat die Art und Weise, wie wir – jedenfalls die meisten von uns – mit „Informationen“ umgehen können, revolutioniert. Im Zuge dessen sind die unterschiedlichsten Plattformen und Social- Media-Kanäle entstanden. Der zugrundeliegende Trend hatte zwar bereits ein paar Jahre davor mit Computer-Chatprogrammen wie MSN eingesetzt, allerdings hatte man den Rechner jetzt in der Hosentasche. Der Mensch ist hungrig nach Informationen, doch hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass die unüberschaubare Masse an verfügbaren Informationen für zahlreiche Menschen einen Stressfaktor darstellt, der seinesgleichen sucht. Goethe, der Dichterfürst, brauchte für seine Erkenntnisse kein Smartphone, er hat bereits 1782 festgestellt: „Es fällt ihm [dem Menschen] mehr auf, was ihm fehlt, als das, was er besitzt.“
Fakten
Stress ist untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden, ohne ihn können wir nicht sein. Hätten sich unsere Urahnen im Angesicht des Tigers nicht innerhalb von Sekunden mithilfe der stressinduzierten Adrenalinausschüttung für Kampf oder Flucht entschieden (fight or flight), wäre ihre Lebenserwartung schlagartig gesunken. Stress kann also sehr sinnvoll sein, die Kunst besteht darin, gut mit ihm umzugehen. Stressassoziierte Erkrankungen entstehen immer als Ergebnis eines gestörten Wechselspiels zwischen persönlicher Wahrnehmung, psychosozialen Komponenten und Umweltvariablen und sie können sich sowohl als körperliche als auch als psychische Beschwerden äußern. Generell gilt: je stärker die subjektive Stressbelastung, desto gravierender die Folgen.
Mehr als jeder Zweite leidet unter Druck und Stress, wobei Stadtbewohner auf deutlich höhere Werte als die Landbevölkerung kommen. Bei einem Vergleich zeigte sich, dass zwischen 2013 und 2016 die subjektive Stressbelastung „häufig oder manchmal“ gegenüber „selten oder nie“ um 4% zugenommen hatte. Eine deutlich über dem mittleren Stressniveau liegende Belastung empfinden einerseits Frauen und andererseits die sogenannte SandwichGeneration, was mit daran liegen mag, dass sie zu einem großen Teil aus Frauen besteht. Unter SandwichGeneration versteht man Menschen mittleren Alters, deren Eltern pflegebedürftig werden, während die Kinder noch nicht aus dem Haus sind. Unter den bedeutsamsten einzelnen Stressursachen steht die Stressbelastung durch Beruf oder Schule/Studium im Vordergrund (bei ca. 50% der beteiligten Männer und Frauen). Persönliche und familiäre Stressoren wurden mit nahezu gleicher Häufigkeit genannt. Frauen fühlen sich dabei deutlich stärker gestresst als Männer.
Definitionen
- ZNS: Nervengewebe innerhalb von Gehirn und Rückenmark, geschützt durch Schädel und Wirbelsäule
- PNS: alle Teile des Nervensystems außerhalb des ZNS, 31 Spinalnervenpaare, 12 Hirnnervenpaare
- Somatisches Nervensystem: steuert alle bewussten und durch den Willen zu beeinflussenden Abläufe
- Autonomes oder vegetatives Nervensystem (VNS): besteht aus dem sympathischen (Sympathikus), dem parasympathischen (Parasympathikus) und dem enterischen Nervensystem (ENS), reguliert eigenständig lebensnotwendige, für die Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichts (Homöostase) erforderliche Funktionen
- Sympathikus: stimulierender Einfluss, freisetzen von Energieressourcen, „fight and flight“
- Parasympathikus: Aufbau von Energiereserven, Erholung,
„rest and digest“ - ENS: Nervensystem des Magen-Darm-Trakts
- Botenstoffe: Neurotransmitter und Neuromodulatoren
- Neurotransmitter: grob unterteilt in kleinmolekulare Neurotransmitter und Neuropeptide
- Neuromodulator: Substanz (kann auch ein Neurotransmitter sein), der das Verhalten bzw. die Eigenschaften eines Neurons verändert
Unser Nervensystem
Das Nervensystem ist dafür zuständig, Informationen aus der Außenwelt und dem Organismus selbst aufzunehmen, zu verarbeiten und angemessen darauf zu reagieren. Da grundlegende Kenntnisse des Nervensystems sowohl für das Verständnis stressassoziierter Erscheinungsbilder als auch der generellen Funktionsweise sowie der Interaktionen mit anderen stressrelevanten Systemen unerlässlich sind, stellen wir zuerst den allgemeinen Aufbau und die Funktionsprinzipien des Gehirns schematisch dar.
Es gibt zwei Betrachtungsweisen, mit deren Hilfe das komplexe Nervensystem untergliedert wird: entweder nach der Lage im Körper (zentrales Nervensystem [ZNS] und peripheres Nervensystem [PNS]) oder nach der Funktionsweise (somatisches Nervensystem und autonomes oder vegetatives Nervensystem [VNS]). Somatisches und vegetatives Nervensystem sind zum Teil im zentralen und zum Teil im peripheren Nervensystem lokalisiert.
Stress
Es gibt zahlreiche Neurotransmitter und Faktoren, die an der Entstehung von Stress beteiligt sind. In diesem Beitrag fokussiere ich mich auf diejenigen, die für die Stressantwort von großer Relevanz sind und deren Wirkung oder Freisetzung – ggf. mithilfe von Vitaminen, Spurenelementen oder Kräutern – beeinflussbar ist.
Sobald der Mensch „Signale“ empfängt, die eine Bedrohung darstellen (selbst wenn sie nur subjektiv ist), wird die sogenannte Stress- oder HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) aktiviert und es kommt zu einer erhöhten Aktivität des Endokriniums. Die Aktivierung der Stresskaskade kann sogar schon im Mutterleib stattfinden, zum Beispiel aufgrund von Mangelernährung. Darauf einzugehen würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Die HPA-Achse ist Bestandteil eines Hormonsystems, das im menschlichen Körper für die Stressreaktion verantwortlich ist. Es reguliert durch einen komplexen Feedbackmechanismus die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Wenn ein Mensch in eine stressige Situation gerät, senden Sinnesorgane Signale an die tief im zentralen Nervensystem gelegene Amygdala, auch Mandelkern genannt. Diese leitet unmittelbar ein Signal an den Hypothalamus weiter – die „Kommandozentrale“ für die hormonelle Stressreaktion. Ein charakteristisches Problem der heutigen Zeit ist, dass wir häufig Stress empfinden aufgrund von Faktoren (Zug verpasst, Stau, Social Media, Arbeitsstress, Geldsorgen), die zwar alle keine Gefahr für unser unmittelbares Überleben darstellen, dieses System aber trotzdem anstoßen. Das bedeutet, dass die Stressreaktion die gleiche ist wie die angesichts eines Tigers, mit dem Unterschied, dass Kampf oder Flucht nicht helfen. Die Folge kann, bei anhaltendem Stressempfinden, eine chronische Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol sein, was in einer Störung des normalen Cortisol-Tagesprofils resultiert. Langfristig hat das erhebliche Folgen für die Gesundheit: Chronisch erhöhter Blutdruck kann zu Arteriosklerose und Veränderungen des Gehirns führen. Ebenso bekannt ist, dass chronischer Stress zur Entstehung von Übergewicht und Schlafstörungen beitragen kann. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis, ein circulus vitiosus, dem das Individuum nur schwer und oft nur mit Hilfe entkommen kann. Chronisch erhöhte Cortisolspiegel gehen zudem mit einer Gewichtszunahme und einer Verlagerung des adipösen Gewebes einher.
Hans Selye (1907-1982), der Vater der Stressforschung, hat den Stress als „General Adaptation Syndrome“, als „Allgemeines Anpassungssyndrom“ beschrieben. Auf die Alarmphase mit einer entsprechenden physiologischen Reaktion folgt die Erholungs- oder Beruhigungsphase. Es werden nur geringe Mengen an Cortisol freigesetzt und Blutdruck und Puls normalisieren sich wieder. Bestimmte Stress-Situationen halten jedoch über einen längeren Zeitraum an, was ein Problem darstellt: Der Körper muss mit der permanenten Ausschüttung von Stresshormonen und den entsprechenden physiologischen Veränderungen klarkommen. Hält diese Phase – auch Widerstandsphase genannt – zu lange an und gibt es keine Möglichkeiten, den Stress auszugleichen, kann das zum Stadium der Erschöpfung führen. Infolgedessen schlagen Irritation und Frustration um in Angstzustände und Müdigkeit. Dazu kommt, dass durch die chronisch erhöhte Cortisolausschüttung das Immunsystem geschwächt wird und es zu einer Erschöpfung der Nebennieren, der „Adrenal Fatigue“ kommen kann.
„Störung des normalen Cortisol-Tagesprofils“
Gleichgewicht
Die zentrale Frage lautet daher, wie wir unsere Balance wiederfinden können, wenn unser System nicht mehr in der Lage ist, das innere Gleichgewicht (die Homöostase) mithilfe der eigenen Ressourcen wieder herzustellen. Neben dem kausalen Blickwinkel – nämlich das Stressniveau durch die Verringerung von Stressoren zu senken – sollte bedacht werden, dass dem Körper möglicherweise essenzielle Nährstoffe fehlen, die ihn unterstützen könnten. Hier die wichtigsten im Überblick:
L-Tryptophan oder 5-HTP:
Serotonin (5-Hydroxytryptamin) wird aus L-Tryptophan geformt. Erhöhte Cortisolspiegel hemmen die Bildung von Serotonin im ZNS, darüber hinaus kann Stress die Rezeptoraffinität für Serotonin hemmen. Limitierte Verfügbarkeit dieser per se schon gering bioverfügbaren Aminosäure kurbelt den Serotoninmangel weiter an. Um ins Gehirn zu gelangen, muss Tryptophan allerdings um einen Platz im Large Neutral Amino Acid Transporter „kämpfen“, denn ohne Hilfe vermag es die Blut-Hirnschranke nicht zu überwinden.
Phenylalanin (PA):
Essenzielle Aminosäure und Baustein für Dopamin und Noradrenalin. (Cave: darf bei Phenylketonurie, einer der häufigsten angeborenen Stoffwechselstörungen, nicht eingenommen werden.)
L-Tyrosin:
Sehr nah mit PA verwandte, nicht essenzielle Aminosäure, die in dieselben Stoffwechselwege involviert ist. Wird im Körper aus PA gebildet. Besteht eine Phenylketonurie, ist der Körper nur eingeschränkt in der Lage, PA in L-Tyrosin umzuwandeln.
Vitamin C (Ascorbinsäure):
essenzieller Cofaktor für die Umwandlung von L-Tyrosin, PA und Dopamin. Vitamin C wird unter Stress „direkt“ verbraucht und als wasserlösliches Vitamin auch kaum gespeichert, so dass relativ schnell eine Unterversorgung entstehen kann.
B-Vitamine:
sind direkt an der Synthese von Coenzym A (Vitamin B5 – Pantothensäure) und ATP beteiligt. Pyridoxal-5-Phosphat (Vitamin B6) ist außerdem als Cofaktor für die Umwandlung von 5-HTP in Serotonin essenziell.
Therapieoptionen
Die Wahrnehmung von Stress ist subjektiv. Nichtsdestotrotz kann mittels Labordiagnostik ein genauerer Blick auf den Zustand eines Organismus geworfen werden. Dafür kommen diverse Laborparameter in Betracht: Cortisol-Tagesprofil, Aminosäurenprofil, Vitaminprofil, Serotonin, Spurenelemente usw. Auch nicht invasive Methoden wie die Messung der Herzfrequenzvariabilität (HRV – Heart Rate Variability) helfen, das Subjektive zu objektivieren. Je nach Befund kann der Ansatz personalisiert werden. Wenn wir allerdings an der Basis anfangen, kann folgendes „Kochrezept“ an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden:
5-5-HTP:
100-200 mg täglich, entweder früh morgens oder spät abends, um die Aufnahme zu maximieren. Cave: Bei der Einnahme von Medikamenten aus der Kategorie Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sollte berücksichtigt werden, dass theoretisch das Risiko von serotonergen Nebenwirkungen erhöht sein kann. Nur unter Beobachtung oben erwähntes anwenden.
Vitamin-B-Complex:
mit aktivierten B-Vitaminen in Coenzym-Form, jeweils 10-100 mg täglich von jedem Vitamin (ausgenommen Vitamin B12, hier sind 1.000-3.000 mcg erstrebenswert).
Vitamin C:
2 g täglich, um den stressbedingten Verlust auszugleichen, das Immunsystem zu stärken und den Redox-Status des Körpers zu verbessern.
Magnesium:
Als essenzieller Cofaktor bei der Neurotransmittersynthese und als Muskelrelaxans 200-400 mg täglich, vorzugsweise abends und in einer gut bioverfügbaren Form wie Magnesiumglycinat oder -citrat.
Glycin:
Von der Struktur her gibt es keinen einfacheren Botenstoff: Glycin wirkt als Neurotransmitter im Rückenmark hauptsächlich als Muskelrelaxans und hilft dadurch, sich zu „entspannen“. Zusammen mit Magnesium 2-5 g täglich vor dem Schlafengehen.
Darüber hinaus gibt es aber auch noch zahlreiche andere Substanzen, Kräuter usw., die bei Stress helfen können. Dabei liefern die oben genannten Substanzen schon mal eine solide Basis für Weiterentwicklung eines Therapieplans.
Ausblick
Ich bin, auch angesichts der aktuell zu beobachtenden Polarisation in der Gesellschaft, eher pessimistisch, was die Entwicklung von Stress und stressbedingten Folgeerkrankungen betrifft. Trotzdem kann jeder Einzelne etwas tun, indem er achtsam sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber ist, auf Signale achtet und daraus ableitet, was nötig ist, um das Stressniveau zu senken. Als positiv erachte ich es, dass ein Teil der Menschen tatsächlich in der Lage ist dies umzusetzen. Darüber hinaus werden zunehmend Methoden erforscht, wie mit Hilfe von HRV-Feedback oder Taktatmung die Resilienz gegenüber Stress verbessert werden kann. Auch die Datenlage zur Wirkung der einzelnen essenziellen Mikronährstoffe verbessert sich ständig, wodurch deren Stellenwert steigt. Die Optionen für die Betroffenen sind vielfältig, sowohl pharmakologisch als auch naturheilkundlich. Ein letzter Satz dazu – mit Burnout und Depression als Endstadium im Hinterkopf – und angelehnt an Dr. Sidney Baker, The Institute of Functional Medicine, USA, der sagt: „Der Mensch hat entweder einen bestimmten Bedarf, der nicht abgedeckt wird, oder bekommt zu viel von etwas, womit er nicht klar kommt. So verliert er sein Gleichgewicht.“ Oder aus kausaler Sicht: Die Ursache einer Depression ist nicht ein Mangel an Prozac“.