Tilia tomentosa Moench, die ungarische Silberlinde, ist eine von etwa 45 Arten in der Gattung Tilia L. [9]. Tilia tomentosa zählt jedoch nicht zu den Ausgangsdrogen für die im Europäischen Arzneibuch und u.a. in der Monografie des HMPC beschriebene Droge Lindenblüten. Stammpflanzen für die monografierte Droge sind nur die Arten Tilia cordata Miller (Spätlinde, Steinlinde, Waldlinde, Winterlinde), Tilia platyphy/los Scop. (Frühlinde, Graslinde, Sommerlinde) sowie Tilia x vulgaris Hayne (Holländische Linde) oder eine Mischung der genannten Arten [13].
Das HMPC verabschiedete die Monografie zu Lindenblüten für genau diese Stammpflanzen mit einer traditionellen Anwendung zur Linderung der Symptome von Erkältungskrankheiten (quasi übereinstimmende traditionelle Anwendung in vielen Mitgliedsländern der EU) und von leichten Symptomen einer psychischen Belastung (in der EU nur traditionell in Polen) [5]. Eine therapeutische Anwendung von Tilio tomentosa galt aus Sicht der früheren Kommission E auf Basis der bis damals (1990) vorliegenden Daten als nicht belegt [9].
Allerdings wird auch Tilia tomentosa arzneilich verwendet: Silberlindenblüten werden u.a. in der Volksheilkunde in Lateinamerika [17] bei Nervosität und auch als Anxiolytikum, in der Türkei als Sedativum und als Expektorans (u.a.) verwendet [2], [3], [6], [10], [16].
Dazu gibt es eine Reihe von Daten, die für die Blüten von Tilia tomentosa in Modellen (in vitro und in vivo) Hinweise auf sedierende und stressmindernde Eigenschaften ergeben haben. Damit besteht für Tilia tomentosa Blüten in etwa die gleiche Evidenz wie für die etablierte und arzneibuchgemäße Droge Lindenblüten (siehe gelistete Daten im Assessment Report des HMPC [4] sowie im aktuellen HAGER [9]).
Effekte der Blüten von Tilia tomentosa
Berichtet wurde über:
- eine Verlängerung der Schwimmzeit von Mäusen im Ausdauer-Schwimmtest durch einen wässrigen Extrakt aus den Blüten von Tilia tomentosa [2];
- den Nachweis einer indirekten benzodiazepinähnlichen Wirkung einer Fraktion, die mutmaßlich flavonoidartige Substanzen wie Kämpferol enthielt: gemessen wurde eine Verdrängung von [3H]-Flunitrazepam von synaptosomalen Benzodiazepin-Rezeptoren aus Rinderhirn und von monoklonalen anti-Benzodiazepin-Antikörpern [11], [17];
- anxiolytische Wirkungen (Elevated Plus Maze-Test, Lochbrett [Hole-board]-Test) und motilitätshemmende Effekte (Lichtschranken-Test) bei Mäusen für die o.g. Fraktion [17];
- Immunmodulation in vitro (humane Leukozyten, Makrophagen, Neutrophile und murine Peyer-Plaques) [7], [8].
Gemmadroge aus Tilia tomentosa
Neben der Blütendroge gibt es eine weitere Droge von Tilia tomentosa: die Blattknospe, lat. gemma. Extrakte aus frischem Embryonalgewebe, bezeichnet als Gemmoextrakte, werden aus frischen Knospen, Sprossen, jungen Blättern (ggf. auch Wurzeln und anderen meristemischen Geweben) extrahiert bzw. gewonnen [10], [14].
Die Gemmoextrakte werden aber nicht nur unter den Gesichtspunkten einer Behandlung nach dem homöopathischen Diagnose- und Therapieverständnis, sondern auch phytotherapeutisch bzw. stofflich angewandt. Es wurde und wird nämlich eine Verbindung des Meristemgewebes, das v.a. pflanzliche Wachstumshormone (Auxine, Zytokine, Gibberelline), des Weiteren freie Aminosäuren, Proteine, Mineralstoffe sowie ätherische Öle enthält, mit bestimmten therapeutischen Wirkansprüchen gesehen; so für den Knospenextrakt aus T. tomentosa u.a. mit anxiolytischen, antispasmodischen und sedativen Effekten.
Zu den Inhaltsstoffen der Gemmoextrakte
Hergestellt werden solche Extrakte aus frischem Material u.a. mit Glycerin-Wasser- und wässrig-alkoholischen Mischungen als Auszugsmittel [12]; die ursprünglich aus dem französischen Arzneibuch stammende Herstellungsvorschrift mit Hydro-Glycerin als homöopathische Zubereitung findet sich mittlerweile auch im Europäischen Arzneibuch (Rubrik „homöopathische Methoden").
In einer HPLC-DAD-MS-Analyse von 6 handelsüblichen Gemmoextrakten aus Tilia tomentosa (Herkunft aus Italien, keine Angaben zu den Extraktionsmitteln bzw. -verfahren) waren diese phytochemisch charakterisiert v.a. durch Flavonole (Quercetin-, Kaempferol-, Apigenin-Glykoside) und Hydroxyzimtsäuren-Abkömmlinge; in einem Extrakt dominierten die Hydroxyzimtsäuren (v.a. Caffeoylchinasäure und Derivate der p-Coumaroylchinasäure) [10]. Als Grund für die gefundene hohe Variabilität zwischen den Extrakten wurde von den Autoren das Alter und die Art des verwendeten Meristemgewebes vermutet.
In einem Extrakt aus frischen Knospen von T. tomentosa, hergestellt mit dem Auszugsmittel Wasser: Ethanol 99%: Glycerin 98% im Mischungsverhältnis 1:1:1 über 10 Tage Mazeration gemäß dem Frz. Arzneibuch in der 10. Ausgabe (100 Teile Auszugsmittel/5 Teile ber. auf getrocknete Droge), wurden folgende Inhaltsstoffe identifiziert: 6% Chlorophyll A, 4% Chlorophyll B, Gesamtcarotinoide 1,99 mg/100 g Knospen, Provitamin A 0,77 mg/100 g Knospen, Gesamtpolyphenole 380 mg / 100 g Knospen; qualitativ nachgewiesen wurden zudem Auxin, Cytokinin und Gibberellin, der Gehalt an hämolytischen Saponinen betrug 5,21 % [12].
Wirkungen der Gemmoextrakte in experimentellen Modellen
Basierend auf den Daten zu Interaktionen des Extraktes aus den Blüten von T. tomentosa am Benzodiazepin (BDZ)-Rezeptor aus früheren Untersuchungen [17] und der dort getroffenen Annahme, dass Flavonoide eine wesentliche Rolle spielen, untersuchten Allio et al. [1] die Wirkungen eines Gemmoextraktes aus T. tomentosa (10 Tage Mazeration der frischen Blattknospen in 95% Ethanol; Trocknungsrückstand aufgelöst in Tyrode-Lösung) auf den Chloridstrom von Neuronen am aktivierten GABAA-Rezeptor des Hippocampus (Herkunft C57BL/6-Mäuse-embryos) mithilfe der Patch-Clamp-Technik und Mikroelektroden-Arrays (MEAs). Wurde der Extrakt der Hippocampus-Zellkultur zugegeben, aktivierte dies einen Chloridstrom, der mit dem in Gegenwart des Neurotransmitters γ-Aminobuttersäure (GABA) gemessenen vergleichbar war. Bicucullin und Picrotoxin blockierten etwa 90% dieses Stroms, während die restlichen 10% durch Zugabe des BDZ-Antagonisten Flumazenil blockiert wurden.
Die Anwendung hoher Konzentrationen des Extraktes auf spontan aktive Neuronen des Hippocampus, die 3 Wochen lang auf MEAs gewachsen waren, blockierte die Aktivität dieser Neuronen; die Effekte wurden durch GABA imitiert und konnten wiederum durch Picrotoxin und Flumazenil verhindert werden. Geringe Konzentrationen des Extraktes führten zu ähnlichen Effekten wie GABA, darunter eine verminderte Erregbarkeit der Nervenzellen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Gemmoextrakt sowohl an GABAA- als auch an BDZ-Rezeptorstellen bindet und im Sinne eines GABA- und BDZ-Agonisten agiert.
Über weitere, bisher nicht publizierte experimentelle Untersuchungen zu den Effekten an den Bindungsstellen des GABA-Rezeptors soll hier berichtet werden. Untersucht wurde ein handelsüblicher Gemmoextrakt (Dr. Koll Tilia tomentosa Gemmoextrakt, Extrakt aus Knospen der Silberlinde). 100 g enthalten lo g Glycerolkomplettextrakt (DEV 1:6, Auszugsmittel 51 % Wasser, 16% Ethanol (96,5 33% Glycerin) der Knospen der Silberlinde (Tilia tomentosa).
Membranpräparationen und Rezeptorbindungsassays
Membranpräparationen (Rent-a-Lab, Deutschland) wurden wie von Tober et al. [15] beschrieben präpariert und in 50 mM Tris-HCl pH 7,4, 4 mM MgCl2 und 1 mM EDTA resuspendiert. Danach wurden die Membranpräparationen in flüssigem Stickstoff schockgefroren und bei -80 °C gelagert.
Am Versuchstag wurden die homogenisierten Membranen (ggf. aufgetaut, 2-malig zentrifugiert und schließlich im Assaypuffer resuspendiert) mit unterschiedlichen Konzentrationen der Testsubstanzen zur Untersuchung der Bindung an der GABAA-Bindungsstelle mit [3H]-Muscimol markiert und mit dem GABAA-Rezeptor-Antagonisten SR95531 inkubiert; zur Untersuchung an der Benzodiazepin-Bindungsstelle wurde mit dem inversen Agonisten der Benzodiazepin-Bindungsstelle [3H]-L-655,708 inkubiert. Die Assays wurden beendet durch Transfer auf vorbehandelte GF/C Glasfilterplatten. Nach mehrfachem Waschen mit eiskaltem Tris-HCl pH 7,4 wurde die filtergebundene Radioaktivität in einem Mikrotiterplattenzähler gemessen. Die Daten wurden auf die spezifische Bindung (Gesamtbindung minus unspezifische Bindung; SR95531 für die GABA-Bindungsstelle; Diazepam für die Benzodiazepin-Bindungsstelle) normiert und die IC50-Werte durch nicht-lineare Regression bestimmt.
Ergebnisse
In einer ersten Versuchsreihe wurde der Effekt auf die GABAA-Bindungsstelle untersucht. Der Tilia tomentosa Gemmoextrakt führte zu einer konzentrationsabhängigen Verdrängung von [3H]-Muscimol an der GABAA-Bindungsstelle. Für den Extrakt wurde ein IC50-Wert für die Bindung an der GABAA-Bindungsstelle von 0,15% berechnet. Die parallel untersuchte Lösungsmittelkontrolle zeigte keine Bindung (siehe Abb. 1). Der spezifische GABAA-Rezeptor-Antagonist SR95531 als Positivkontrolle führte wie erwartet zu einer konzentrationsabhängigen Verdrängung von [3H]-Muscimol (siehe Abb. 2).
In einer weiteren Versuchsreihe wurde der Einfluss auf die Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABA-Rezeptors untersucht. Weder der Tilia tomentosa-Extrakt noch die Lösungsmittelkontrolle führte zu einer Verdrängung von [3H]-L-655,708. Da Diazepam als Positivkontrolle führte zu einer konzentrationsabhängigen Verdrängung von [3H]-L-655,708 führte (siehe Abb. 3), folgt aus den Experimenten, dass der Tilia tomentosa-Extrakt nicht an der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABA-Rezeptors bindet (siehe Abb. 4).
Diskussion
Es gibt mittlerweile eine Reihe von Daten, die für die Stammpflanze Tilia tomentosa Effekte in experimentellen Modellen berichten. Zum einen liegen für die Blütendroge aus T. tomentosa Daten zu Interaktionen am Benzodiazepin-Rezeptor vor. Zum anderen gibt es Belege aus unabhängigen experimentellen Studien zu Effekten von Extrakten aus den (Blatt-)Knospen (Gemmoextrakten). Auch hier wurden Interaktionen am GABA-Rezeptor gezeigt. Diese Hinweise konnten nun mit weiteren In-vitro-Untersuchungen ergänzt werden. Interessanterweise zeigte sich, dass der untersuchte Tilia-tomentosa-Extrakt an der GABA-Bindungsstelle und nicht an der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptors bindet. Die anxiolytischen Effekte würden somit eher der Wirkung von GABA entsprechen als der von Benzodiazepinen. Sofern sich diese Effekte auch bei Anwendung in vivo verifizieren ließen, wäre dies als ein weiterer Hinweis auf die aus der traditionellen Anwendung bekannten anxiolytischen Wirkungen zu sehen. Selbstverständlich wären dabei Ergebnisse aus der Humananwendung mehr als sinnvoll. Hier sei allerdings nicht nur ganz nebenbei angemerkt, dass auch für die etablierte Anwendung der monografierten Droge Lindenblüten bei Erkältungskrankheiten keine Belege aus klinischen Studien vorliegen und sich deren Anwendung also aus der Tradition heraus als „plausibel" im Sinne der europäischen Regularien für traditionelle Arzneimittel ergibt. Dies sollte dann selbstverständlich im Weiteren auch pharmakognostische Vorgaben für die Definition der Droge und für die phytochemische Charakterisierung der Droge bzw. der Extrakte einschließen. Es darf festgehalten werden, dass die ungarische Silberlinde Tilia tomentosa (und daraus hergestellte Extrakt-Zubereitungen) eine interessante Stammpflanze für weitere vertiefende Untersuchungen darstellt.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.